„Wir stehen hier schon ein paar hundert Jahre“: Verhandlungen über Erbe und Identität im Amsterdamer Rotlichtviertel (EN)
Das Amsterdamer Rotlichtviertel De Wallen steht zunehmend im Fokus einer Debatte über die Herausforderungen rund um Kriminalität, Tourismus und Lebensqualität in der Stadt. Pläne für ein „Erotikzentrum“ außerhalb der Stadt mobilisierten Anwohner*innen, kommunale Akteure und Unternehmer*innen zu der Frage, wer und was überhaupt in das Viertel gehört. Der zunehmende Massentourismus führte dabei einerseits zu einem Gefühl der ‚Entfremdung‘ sowie dem Verlust einer Ortsidentität und damit auch zu Forderungen nach einer Beseitigung der Sexarbeit. Andererseits werden Gentrifizierungsprozesse und die fortschreitende Verdrängung des Sexgewerbes von langjährigen Bewohner*innen und Unternehmer*innen bedauert, für die der Rotlichtcharakter des Viertels eng mit der Identität des Ortes verbunden ist. Diese ambivalenten Erfahrungen von Wandel und Verdrängung möchte ich vor dem Hintergrund der neoliberalen Rekonfiguration der Innenstadt beleuchten, indem ich die Bedeutung und Rolle von ‚Erbe‘ und ‚Identität‘ im Rahmen umfassender städtischer Entwicklungsprozesse untersuche.
Die Fallstudie de Wallen soll damit einen Beitrag zu der Diskussion über die Beziehung von Kulturerbe, Gentrifizierung und Partizipation leisten und aufzeigen, wie der Prozess der Heritagization zur Entstehung attraktiver Räume für Bewohner*innen insbesondere der Mittelschicht und zahlungskräftige Besucher*innen führt. Strategien der Stadtverwaltung für die Sanierung und Aufwertung des Viertels lenken dabei die Aufmerksamkeit weg von seinem Ruf als “Sex- und Drogenparadies” hin zur Bedeutung des mittelalterlichen Bauerbes. Touristische Führungen, Museen und andere Formen kultureller Aktivität machen das “Rotlichtviertel” zu einer touristischen Attraktion und die „Schaufensterprostitution“ zu einem Objekt der Vergangenheit.
Obwohl bestimmte Anwohnergruppen sich gegen die Touristifizierung zur Wehr setzen, zeigt die Fallstudie, wie durch partizipative Prozesse klassenspezifische Vorstellungen von Ortszugehörigkeit privilegiert werden, wodurch die Bedeutung des Kulturerbes hervorgehoben und alternative Identitätserfahrungen, wie sie insbesondere von Sexarbeitsorganisationen und anderen sozialen Gruppen zum Ausdruck gebracht werden, ausgeschlossen werden.
Angesichts der anhaltenden Stigmatisierung, der räumlichen Marginalisierung und der fehlenden politischen Einbindung in die geplanten Sanierungsvorhaben werden gerade diese Perspektiven oft außer Acht gelassen. Ausgehend von qualitativen Interviews mit Bewohner*innen und Unternehmer*innen des Viertels beleuchtet die Arbeit schließlich den Wert von de Wallen für diese Gemeinschaften und die Bedeutung des Viertels für ihre eigene Verortung in der Stadt. Es stellt sich die Frage, um wessen Erbe hier verhandelt wird und wer in die Debatte über seine Zukunft einbezogen werden sollte.