Wenn diese Wand sprechen könnte: Die Judensau in Wittenberg (EN)
Im Oktober 2022 endete eine langjährige Kontroverse darüber, ob ein mittelalterliches Relief, die sogenannte „Wittenberger Sau“, an der südlichen Außenwand der Marienkirche in Wittenberg entfernt oder erhalten werden sollte – zumindest hofften dies der Wittenberger Stadtrat und die Stadtkirchengemeinde. Unter Berufung auf die fünf Monate zuvor ausgesprochene Empfehlung des Bundesgerichtshofs entschieden sich die Verantwortlichen gegen eine Entfernung des Reliefs. Diese Entscheidung stützte sich auf die Tatsache, dass das Relief seit 1988 Teil eines Mahnmals ist, das unter der Sau angebracht ist und dem Mord an sechs Millionen von den Nazis ermordeten Jüd*innen gedenkt. Anerkannt wurde dabei auch die Notwendigkeit, den Text auf der Erläuterungstafel neben dem Mahnmal zu überarbeiten, so dass er ausführliche Informationen über die Ikonographie des Reliefs und den Antijudaismus und Antisemitismus in der Kirche bietet. Mir wurde mitgeteilt, dass eine Petition von mehr als fünfzig israelischen Wissenschaftler*innen und Student*innen, mehrheitlich Kunsthistorik*innen, die sich für den Verbleib des mittelalterlichen Reliefs an Ort und Stelle aussprachen, zu dieser Entscheidung beigetragen hätte. Der Kläger für eine Entfernung des Reliefs, Michael Düllman, kündigte im Gegenzug an, dass er den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bringen werde. Kürzlich schloss sich Felix Klein, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und die Bekämpfung des Antisemitismus, diesem Vorschlag an: „Eine Stadt, in der mit der ‘Judensau’ an der Stadtkirche Antisemitismus offen zur Schau gestellt wird, kann kein Ort sein, an dem sich jüdische Israelis willkommen fühlen […] die antisemitische ‘Judensau’ muss entfernt werden.“
Ähnliche Auseinandersetzungen um andere Darstellungen der Judensau, wie z.B. in den Domkirchen in Brandenburg an der Havel und in Regensburg zeigen, dass die Diskussion noch lange nicht beendet ist. In meinem Vortrag werde ich die Frage stellen, um wessen Erbe es sich überhaupt handelt. Um das Erbe der deutschen Jüd*innen? Der Wittenberger Bürger*innen? Der evangelische Kirche? Wer hat das Recht, über die Zukunft des Reliefs zu entscheiden? Sollte diese Frage von der lokalen, religiösen oder beruflichen Identität abhängig sein?
Ich werde argumentieren, dass das Erbe der Kunstgeschichte im Allgemeinen und die Identität der deutschen Kunst im Besonderen vor einer großen Herausforderung steht. Die Bilderstürmer*innen, die mittelalterliche Darstellungen entfernen wollen, verkennen die zeitlose Erinnerungskraft und pädagogische Wirksamkeit, die einem Kunstwerk in situ innewohnt. Aus der Sicht von Kunst- und Kulturhistoriker*innen spricht die Judensauan der Wand der Lutherkirche eine deutliche Sprache. Sie liefert Informationen, die weitaus zuverlässiger und authentischer sind, als die in Museen ausgestellten Kunstwerke. Die Auslöschung dieser Zeichen würde die Gräueltaten des Antisemitismus verbergen und damit zu einer Negierung der Vergangenheit führen.