Valerija Kuzema (Lüneburg): »Vom Kampf der Richtungen zum Kampf der Rezeptionen. Die Erben der sowjetischen Avantgarde«
Im sog. »Kampf der Richtungen« (ca. 1928-1932) waren letztmalig avantgardistische Konzepte gegen die traditionellen, akademischen Standpunkte um die zukünftige Ausdrucksform der Künste in der Sowjetunion angetreten. Dieser Richtungskampf kann als letzter Moment der vielfältigen Aushandlungen und damit lebhaften »Produktion« des künstlerischen und kulturellen Erbes in der Sowjetunion gesehen werden. Spätestens Mitte der 1930er Jahre setzten sich die Vertreter*innen des Akademismus durch. Der Etablierung der sozialistisch-realistischen Malerei als Staatskunst folgte eine aktive Verdrängung der Avantgarde – sowohl aus der sowjetischen Kunstgeschichtsschreibung als auch aus allen Museen der Union.
Begrifflichkeiten und Wertekategorien waren etabliert worden, die sich zur Referenzfolie für die offizielle Kunst der Sowjetunion entwickelten. Nicht zuletzt bildete sich eine einseitige Rezeption heraus, die das kulturelle Erbe klar definierte und die Avantgarde in der Sowjetunion bis in die 1990er Jahre hinein als einen kaum beachtenswerten Kursverlust in der Entwicklung der Künste beschrieb. Dem steht die westliche Forschung gegenüber. Sie stützt sich auf Werke und Vermächtnisse, die ab Ende der 1920er Jahre ins westeuropäische oder US-amerikanische Ausland gelangten und heute den Kanon der sog. »Russischen Avantgarde« definieren. Dabei prägte eine als fortschrittlich und freiheitlich geltende Avantgarde das Narrativ, wobei die russischsprachige Literatur und Darstellung wenig Berücksichtigung fand.
In vergleichender Perspektive ergeben sich somit zwei unterschiedliche Rezeptionen, die seit jeher auseinanderfallen und der Sowjetunion der 1920er Jahre bis heute ein unterschiedliches künstlerisches und kulturelles Erbe attestieren. Der Beitrag stellt zunächst die Frage, wie sich das Ringen um Hegemonie und Machtverhältnisse in diesen Entwicklungspfaden seit dem Kampf der Richtungen äußerte. Ferner beleuchtet und hinterfragt er in der vergleichenden Perspektive auf westliche und osteuropäische Forschung die »legitimierten« Deutungsmächte und Kulturtechniken. Nicht zuletzt zeichnet er die Folgen der unterschiedlichen Rezeptionen für den Umgang mit Werken sowohl der Avantgarde wie des sog. »Sozialistischen Realismus« nach.