Stefan Willer (Berlin): »Übertragungen: Erbe als Metapher, Metapher als Erbe«
Der moderne Begriff des Erbes beruht auf einer Trennung von Zuständigkeitsbereichen. Je nachdem, ob von der juristischen Kodifizierung und Aushandlung privater Erbschaften, von der Formulierung einer biologischen Vererbungstheorie oder von Bemühungen um das kulturelle Erbe die Rede ist, sind unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme gefragt – einerseits. Andererseits stiften Konzepte des Erbes gerade dort, wo sie als voneinander getrennt und in sich konsistent entworfen werden sollen, immer wieder Übertragungen zwischen jenen Bereichen. Die Frage, wie weit oder eng der Leitbegriff »Erbe« zu fassen sei, gehört integral zur modernen Reflexionsgeschichte der Vererbung. Ausgehend vom Befund, dass jedes Erbe eine Übertragung darstellt, entfaltet sich das seinerseits übertragende, stets von einem
Diskursfeld auf das andere verweisende Vermögen des Erbe-Begriffs. Damit eröffnet sich die Frage nach der Metaphorizität des Erbes – und nach der Beziehung zwischen Erbe und Metapher. Mein Vortrag soll diese komplexen Zusammenhänge historisch im Blick auf die Jahrzehnte um 1900 erschließen, als in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und bei so unterschiedlichen Autoren wie Francis Galton, Wilhelm Johannsen, Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner und Ferdinand de Saussure eine eingehende und richtungsweisende Theoretisierung des Erbes einsetzte. Verfolgt werden Diskussionen sowohl über den Stellenwert von Metaphern im neuen biologischen Vererbungswissen als auch über den Stellenwert
von Vererbung in sprachphilosophischen und ‑historischen Metapherntheorien.