Jens-Christian Wagner (Jena): 60 Jahre Colonia Dignidad. Ein deutsches Verbrechen in Chile und seine Erinnerung

1961 floh der deutsche Sektenprediger Paul Schäfer mit 150 Anhänger:innen nach Chile, nachdem Ermittlungen gegen ihn wegen Kindesmissbrauchs eingeleitet worden waren. Auf einem streng abgeschirmten Anwesen im Süden Chiles gründete er die „Colonia Dignidad“, offiziell ein Wohltätigkeitsverein. Tatsächlich herrschte ein brutales System vollständiger mentaler und physischer Kontrolle der bis zu 350 Bewohner:innen und systematischen sexuellen Missbrauchs deutscher und später auch chilenischer Kinder.

Nach dem Militärputsch von 1973 kooperierte die Sekte eng mit dem Geheimdienst der Pinochet-Diktatur, der auf dem Gelände ein Folterzentrum einrichtete, in dem Oppositionelle unter Mithilfe der Sektenmitglieder misshandelt und ermordet wurden. Nach dem Ende der Diktatur 1990 blieb die Colonia zunächst unangetastet. Erst nachdem die chilenische Justiz Ermittlungen gegen Schäfer wegen des Missbrauchs chilenischer Jungen eingeleitet hatte, tauchte dieser unter und wurde 2005 in Argentinien festgenommen. Er starb 2010 in einem chilenischen Gefängnis. Unter geänderter Rechtsform existiert die ehemalige Colonia unter der Bezeichnung „Villa Baviera“ bis heute; knapp 100 „Colonos“ leben noch dort. Unter ihnen, aber auch unter ehemaligen Bewohner:innen und den Angehörigen chilenischer Mordopfer tobt eine Debatte um Deutungshoheit, die von chilenischen und deutschen Historiker:innen moderiert wird: Welche Geschichten erzählt der historische Ort? Wie können die Verbrechen öffentlich erinnert werden?

Jens-Christian Wagner ist Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der FSU Jena und leitet seit Oktober 2020 die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Zuvor leitete er die Stiftung niedersächsische Gedenkstätten in Celle. Er forscht seit über 25 Jahren zur Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere der Konzentrationslager und der Zwangsarbeit, sowie zu Geschichts- und Erinnerungskulturen im internationalen Vergleich und hat dazu zahlreiche Ausstellungen kuratiert und Publikationen vorgelegt. Veröffentlichungen u.a.: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 2015; Ellrich 1944/45. Konzentrationslager und Zwangsarbeit in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2009; (Hg. mit Thomas Rahe) Menschen in Bergen-Belsen. Biografische Skizzen zu Häftlingen des Konzentrationslagers, Göttingen 2019; (Hg. mit Volkhard Knigge u.a.) Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg, Essen 2012; (Hg. mit Martina Staats) Recht. Verbrechen. Folgen. Das Strafgefängnis Wolfenbüttel im Nationalsozialismus, Göttingen 2019.

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