Henning Michelsen (Weimar): Spuren und Fehlstellen – Über die Arbeit mit historischen Lichtbildsammlungen
In einer Ecke des Hochschularchives: 29 Umzugskartons, darin: unzählige Dias. Architekturen, Dokumentationen studentischer Arbeiten, Reproduktionen aus Fachbüchern, Reisebilder, mehr oder weniger privat. Das Nachbild von vier Jahrzehnten Architekturausbildung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar. Material für unzählige Vorlesungen. Bei der gleichermaßen explorativen wie systematischen Betrachtung der Lehrbildsammlung treten Sequenzen und narrative Muster hervor, auch Vorlesungen, die (vielleicht) nie gehalten wurden. Die Konturen der Vergangenheit, die der Betrachter zu erkennen glaubt, vermischen sich mit der Gegenwart.
In den Archiven der Architekturschulen lagern noch immer Licht-/Lehrbildsammlungen ehemaliger Hochschullehrer. Der bloße Verdacht, dass sich zwischen den belanglos erscheinenden Reproduktionen auch relevante Informationen verbergen könnten, haben die Sammlungen bisher vielleicht vor der Kassation bewahrt. Gleichzeitig entziehen sie sich der systematischen Erfassung, da sich die Lehrsammlungen als hermetische Informationssysteme darstellen, die sich ohne erläuternde Kataloge, Vorlesungsskripte oder andere Dokumente nur schwer interpretieren lassen. Für meine Forschungen zur Architekturausbildung an den Hochschulen der DDR stellen sie dennoch eine wichtige Primärquelle dar. So repräsentieren diese Lehrbildsammlungen als visuelle Repetitorien nicht nur das gesammelte Architekturwissen, sondern auch die Biografie und didaktische Absicht ihrer Autoren; ihre ausgewählten Inhalte haben Eingang in das kollektive Bildgedächtnis gefunden. Damit werden sie zum Ausgangsmaterial meiner Forschungsarbeit, die untersucht, auf welche Vorbilder die Lehrenden und Studierenden der Architekturschulen der DDR zurückgreifen konnten, welche Strömungen und Konzepte, welche Protagonisten der Moderne und der westlichen Gegenwartsarchitektur jenseits staatlich verordneter Architekturdoktrin diskutiert wurden und was die Voraussetzungen hierfür waren. Diasammlungen ermöglichen einen visuellen Zugang zur Vergangenheit. Dabei verweisen sie auf eine Vielzahl verlorener und möglicher Dokumente und entwickeln daraus eine hohe suggestive Wirkung. In ihrer physischen Präsenz manifestieren sich darüber hinaus weitere Verlustebenen: Der Verlust ihrer ursprünglichen Bedeutung, ihres Sammlungskontextes und ihrer Aufführungspraxis.