Hans Peter Hahn (Frankfurt am Main): Ambivalenzen des Kulturerbes. Zeitlichkeit und kulturelle Bedeutung materieller Objekte
Die Stabilität des Materiellen und dessen Bedeutsamkeit ist eine implizite und wenig hinterfragte Grundannahme moderner Gesellschaften. Bruno Latours (1992) schon vor dreißig Jahren gestellte Frage »Where are the missing masses?« weist auf diesen Umstand hin und sensibilisiert für diskursiv marginalisierte Bereiche der Moderne. Heute sind wir einen Schritt weiter und müssen feststellen, dass die Dinge nicht nur verborgene Bedeutungen enthalten, sondern viel öfter noch für Irritationen sorgen, außer Kontrolle geraten, und letztlich den Menschen ihren Eigensinn aufzwingen, wie es Martin Holbraad (2012) mit dem Begriff »Savage Objects« unterstreicht. Ein von Latour zu seiner Zeit nicht hinreichend beleuchteter Bereich betrifft die Temporalität des Materiellen: Zeitspannen der Existenz von Dingen. Die Existenz von Dingen kann wenige Minuten umfassen, oder aber auch Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte andauern. Daniel Miller (2001) zufolge ist es diese lange Dauer, die eine spezifische Verdichtung von Bedeutungen zur Folge hat. Vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren durch Thora Petursdottir (2018) formulierten Ethik des Materiellen gehört dazu auch eine unvermeidliche materielle Veränderung: der Zerfall. Bedeutsamer ist aber die Einsicht in den unausweichlichen Wandel von Kontext und kulturellen Einbettungen. Dinge der Vergangenheit, kulturelles Erbe (aber auch persönliche Erbstücke) sind nicht mehr das, was sie in anderen Epochen einmal waren. So oft die Heritage Studies eine Verfälschung der ursprünglichen Bedeutung beklagten, so häufig Befunde des Bedeutungswandels vorgelegt werden, so oft wird auch unterschlagen, dass ein solcher Wandel notwendig ist. Dinge, so die These dieses Beitrags, sind eben nicht so stabil, wie Latours Begriff der »Masse« der Objekte es vermuten lässt.