Dietrich Soyez (Köln): Dunkle Industriekultur: Zum Wert ergänzender Narrative in der geographischen Kulturlandschaftspflege
Noch bevor Termini wie ‘Industriekultur’ oder ‘Städtisches Erbe’ in rezenten gesellschaftlichen Diskursen aufgegriffen wurden, entwickelte sich aus frühen Ansätzen der Historischen Geographie die sog. Kulturlandschaftspflege. Ziel war es, Methoden und Anwendungen zu entwickeln, mit denen als wertvoll betrachtete Objekte, Ensembles oder Landschaftsausschnitte bewahrt und überliefert werden können, und zwar in enger Abstimmung mit Akteuren und Regeln der räumlichen Planung.
Ein unbefangener Beobachter hätte meinen können, damit seien alle Typen der vom Menschen geschaffenen oder beeinflussten Landschaften eingeschlossen. In einem lange nicht wahrgenommenen Widerspruch aber zum Begriff selbst konzentrierte sich dann das Interesse über Jahrzehnte hinweg fast ausschließlich auf die ländliche Kulturlandschaft – ein dominierendes, den ländlichen Raum fast schon romantisierendes Narrativ liess Stadt- und Industrielandschaften weitgehend aus. Aufbauend auf diesem verengten traditionellen Ansatz werden im Vortrag Notwendigkeit und Vorteile ergänzender Narrative belegt. Dabei wird es um solche Facetten unserer industriellen Vergangenheit gehen, die im zeitgenössischen Diskurs zumeist unterschlagen oder verschönt werden, so Strategien und Tätigkeiten im Zusammenhang mit Krieg, Besatzung, Annexion, Grenzänderungen, Vertreibung oder Zwangsarbeit. Im Mittelpunkt stehen dabei Fallstudien aus der deutschen Montan- und Automobilindustrie. Abschließend wird in einer Rückkopplung zur traditionellen Kulturlandschaftspflege die Frage gestellt, ob sich diese neuen Narrative in einer Gesamterzählung über die geographische Bedeutung unseres landschaftlichen Erbes integrieren lassen.
Dietrich Soyez studierte Geographie und Romanistik an den Universitäten Bonn, Saarbrücken, Stockholm und Clermont-Ferrand. Im Jahre 1974 promovierte er in Glazialmorphologie an der Universität Stockholm. 1981 verfasste er seine wirtschafts-/industriegeographische Habilitation an der Universität Saarbrücken. Zu seinen zentralen wissenschaftlichen Interessen zählen umweltbezogene Wirtschaftsgeographie, Politische Geographie sowie Industriekultur/Industrietourismus. Von 1992–2007 hatte er den Lehrstuhl für Geographie am Geographischen Institut der Universität zu Köln inne. Gastprofessuren absolvierte er an der Université Laval (Québec), der Université Paris 10 (Nanterre), der Sun Yat-sen University (Guangzhou) sowie der German University of Technology Oman (Muscat). Von 1993–1995 war er Präsident der Gesellschaft für Kanada-Studien in deutschsprachigen Ländern/GKS und von 2008–2016 Vizepräsident/Erster Vizepräsident der International Geographical Union/Union Géographique Internationale (IGU/UGI).