Den Pelourinho durch Erinnerung (de)konstruieren: Zur sozialen Konstruktion eines Schwarzen Symbolortes in Brasilien (DE)
Pelourinho ist der Name eines Stadtviertels im historischen Zentrum von Salvador da Bahia, das 1985 als „Kolonialstadt par excellence“ in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen wurde und als symbolisches Zentrum des Schwarzen Empowerments in Brasilien und darüber hinaus weitreichende Bekanntheit genießt. Zwischen dem eigentlichen Wortsinn der Ortsbezeichnung und der Bedeutung des Viertels als Schwarzer Symbolort offenbart sich bei näherer Betrachtung ein vielsagender Widerspruch, der den Ausgangspunkt des Vortrags bildet: Pelourinho ist die portugiesische Bezeichnung für den Pranger, der in brasilianischen Kolonialstädten bis ins frühe 19. Jahrhundert als Schauplatz der Bestrafung von Versklavten diente – ein Symbol kolonialer Autorität und Disziplinierung, das sich einst als bauliches Element im Stadtraum von Salvador da Bahia manifestierte und dem Viertel langfristig zu seinem Namen verhalf. Wie lässt sich die Umdeutung des Pelourinho vom kolonialen Machtsymbol zum Schwarzen Symbolort erklären? Wie tragen lokale Akteur*innen durch raumbezogene Praxis dazu bei, den Pelourinho auf symbolischer Ebene zu (de)konstruieren?
Auf Grundlage von stadtanthropologischen Theorien zu space und place und den Ergebnissen einer ethnografischen Feldforschung aus dem Jahr 2020 geht der Vortrag diesen Fragen nach und stellt heraus, wie dem Pelourinho von vielfältigen Akteur*innen mit zum Teil gegenläufigem Interesse eine ortsbezogene ‚ethnische Identität‘ zugewiesen wird. Der Fokus richtet sich auf die von lokalen Schwarzen Akteur*innen vorangetriebene soziale Konstruktion von Raumbedeutung. Diese bezieht ihre Kraft aus Erzählungen, die sowohl die soziale Produktion des gebauten Raums als auch besonders denkwürdige Momente des Schwarzen place-making im historischen Kontext von Kolonialismus und (Post-)Versklavung bis in die jüngere Vergangenheit ins Bewusstsein rufen. Die zur Sprache gebrachten Erzählungen setzen an der gebauten Stadtlandschaft an und rücken Schwarze Menschen – afrikanische Versklavte wie auch deren Nachfahr*innen – als Protagonist*innen ins Zentrum einer durch die Dialektik von (kolonial)rassistischer Unterdrückung und Schwarzem Widerstand bestimmten Lokal- und Nationalgeschichte. Der Pelourinho wird in Gedenken an seine versklavten Erbauer*innen als symbolischer Ankerpunkt der Schwarzen Diaspora auf brasilianischem Boden deklariert und tritt somit als eine urbane Erinnerungslandschaft in Erscheinung.