Carolin Vogel (Frankfurt/Oder): Archiv ohne Archiv: Der Ort als Gedächtnisraum
Verlust bedeutet nicht zwangsläufig Zerstörung, als Synonyme für das Verlieren nennt der Duden Abgabe und Abgang. Was passiert mit Ursprungsorten des Sammelns und Archivierens, wenn Archivbestände an andere Orte transferiert und in größere Zusammenhänge integriert werden? Inhalt und Materialität der Archivalien bleiben erhalten, der authentische Kontext und dessen auratische Wirkung gehen verloren. Mit der Trennung des schriftlichen Gedächtnisses vom Entstehungsort ändern sich Bedeutung und Funktion dieses Ortes. Am Beispiel des 1912 erbauten und zuletzt vom Verfall bedrohten Dehmelhauses in Hamburg, dem einstigen Wohnhaus und Archivgebäude des zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr bedeutenden, heute oft vergessenen Dichters Richard Dehmel und seiner Frau Ida, lässt sich ein solcher Wandel exemplarisch nachvollziehen. Nach Auslagerung der Archivalien, Verfemung der Akteure, Suizid der Archivarin und trotz jahrzehntelangem Ringen zwischen individueller Erinnerung und allgemeinem Vergessen hat man das Dehmelhaus mit all seinen Leerstellen bis heute erhalten. Für seine jüngst begonnene Reaktivierung spielt die räumliche Erfahrung der Absenz und der leeren Archivschränke ebenso eine Rolle wie die in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg verwahrten und als Dehmel-Archiv bezeichneten Inhalte. Dass Archive auch ohne Präsenz ihrer Archivalien nicht zu weißen Flecken auf der Landkarte werden und relevante Orte bleiben, die nach dem Aderlass ein Nachleben haben können, zeigt z.B. das Nietzsche-Archiv in Weimar. Anhand der Fallstudie zum Dehmelhaus wird deutlich, dass Orte allein die Erinnerung nicht festhalten, sondern es dazu immer menschlichen Handelns bedarf. Ob und wie man sich der Orte erinnert und welche Bedeutung sie für eine Gegenwart haben, hängt auch davon ab, ob die räumliche Distanz zwischen den inhaltstragenden Dokumenten und ihrer ehemaligen Hülle überbrückt werden kann. Die Herausforderung wächst, wenn die Urheber nicht mehr einem allgemeinverbindlichen Bildungskanon angehören. Doch an Gedächtnisorten mit ihrer eigentümlichen Verbindung aus Nähe und Ferne, so Aleida Assmann, suchen Menschen Kontakt zur Vergangenheit.