Nadja Bournonville

Kurzvita

  • geboren 1983, Vimmerby, Schweden
  • seit 2007 als freischaffende Künstlerin tätig
  • 2022 Stipendiatin von Neustart Kultur für eine Reise auf den Spuren von Mary WollstonecraftsBuch „Letters Written During a Short Residence in Sweden, Norway, and Denmark, 1795″
  • 2021 Schwedischer Fotobuchpreis für „A worm crossed the street”
  • 2021 Recherchestipendium des Berliner Senats
  • 2019 Stiftung Kunstfonds Katalogförderung
  • 2017–2018 Recommended Fellowship für das Projekt „Intercepted”
  • 2014 Stiftung Kunstfond Arbeitsstipendium
  • 2010–2012 „A conversion act” , Meisterschülerstudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig, Prof. Tina Bara
  • 2003–2006 Ba(Hons) First Class Degree in Fine Art Photography, The Glasgow School of Art, Glasgow UK

Kontakt

Bauhaus-Universität Weimar
Fakultät Architektur und Urbanistik
DFG-Graduiertenkolleg 2227 „Identität und Erbe“
D-99421 Weimar

Sitz: Prellerhaus | 3. OG | Raum 303
Geschwister-Scholl-Str. 6 | D-99423 Weimar
nadja.bournonville[at]uni-weimar.de

Verlust und Erhalt behausen – über das kulturelle Erbe der naturhistorischen Sammlungen

Millionen von Tieren schlummern in Naturkundemuseen auf der ganzen Welt. Als Trocken- oder Nasspräparate fristen sie ein Dasein in Regalen und Schränken, in Kellern, auf Dachböden und im kleinsten Teil in den Schausammlungen sichtbar. Einige dieser Präparate sind mehrere Hundert Jahre alt. Einerseits Zeugen des Wissensdursts, der Sammelleidenschaft, der Neugier, des Klassifizierungswillens und der sich entwickelnden Kunst der Präparation. Andererseits Abbild der Träume, Schaulust und Projektion ihres gefährlichen Gegenübers, uns Menschen. Während die Sammlungen der naturwissenschaftlichen Institutionen immer umfangreicher werden, entstehen Lücken in den ursprünglichen Lebensräumen. Das Dissertationsvorhaben konzentriert sich auf die Tierpräparate und möchte die Rolle, die Materialität und die Ästhetik dieser Sammlungen in Zeiten des Rückgangs biologischer Vielfalt und zunehmender Digitalisierung beleuchten. Ausgehend von meiner künstlerischen Praxis und anhand von Fallstudien werde ich dieses kulturelle Erbe erforschen und ihre zeitgenössische Relevanz untersuchen.

„Ein genaues Bild zu machen bedeutet, sich gegen das Verschwinden zu versichern, das Leben zu kannibalisieren, bis es sicher und dauerhaft ein spiegelndes Bild ist, ein Gespenst.“1

Als Künstlerin habe ich in den wissenschaftlichen Sammlungen des naturhistorischen Museums in Wien über einen längeren Zeitraum fotografiert. Insbesondere die Fotografie spielt eine seltsame Rolle in Bezug auf Verlust und die Ästhetik des Verschwindens und ist in ihrem Bemühen, die Zeit abzuwehren, mit der Taxidermie verwandt. Die Erforschung der Analogie zwischen diesen beiden Praktiken wird ein wesentlicher Teil der Dissertation. Roland Barthes’ berühmter Begriff des punctum bezieht sich auf einen Moment, der existierte, der greifbar war und durch die Fotografie in die Gegenwart geschleudert wurde. Das Medium entwickelt damit eine gewisse Resistenz gegen den Verlust, obwohl es die Möglichkeit des Überschreibens und Ersetzens gleichsam in sich trägt. In der Fotografie sowie auch in der Taxidermie stellt sich die Frage nach eingeschriebenen Leerstellen und Diskrepanzen.

Die Digitalisierung von Sammlungen kann vergessenes Wissen hervorbringen, neue Inhalte produzieren und einen weltweiten Zugang ermöglichen, ohne dass eine tatsächliche Begegnung mit einem ortsspezifischen, fragilen Exemplar zwingend notwendig ist. Durch das digitale Bild ist sogar teilweise die Verfügbarkeit einer realen Referenz nicht mehr unbedingt erforderlich. Naturkundliche Sammlungen werden zunehmend digitalisiert. Fotografie, Film und animierte Bilder ersetzen die präparierten Tiere in den Ausstellungssälen. Haben uns die Tierpräparate noch etwas Wichtiges zu sagen? Die präparierten Tiere in den naturhistorischen Sammlungen sind durchaus gesprächig. Materialität, Provenienz, Gewaltspuren, Transportwege und Verarbeitung aber auch Informationen über Zeitwahrnehmung und Ästhetik, Irrtümer, Lücken, Fantasie und damit gesellschaftliche Themen sind ihrer Existenz inhärent. Die Präparate erinnern an das schwer greifbare Lächeln der Grinsekatze aus Alice im Wunderland. Sie sind Schatten ihrer lebenden Gegenstücke oder Echos verlorener Arten wie der Riesenalk. Bisweilen demonstrieren sie unseren Willen, die Natur nach unseren Wünschen zu formen, wie etwa der Wiener Basilisk im Naturhistorischen Museum in Wien. Dieses Exemplar soll den Basilisken, ein Fabelwesen, darstellen, besteht aber in Wirklichkeit aus einem Rochen, dessen Genitalien zu Beinen umfunktioniert und dessen Mund zu einer Schnauze verformt wurde. Dieser Basilisk, der bis in die Neunzigerjahre in der Sammlung versteckt war, wurde durch Parasiten beschädigt und dann in Alkohol konserviert, um nun in der Schausammlung präsentiert zu werden2. Er verkörpert eine mythische Gestalt und erzählt gleichzeitig eine Geschichte der Taxidermie, der Ökonomie, der Kunst und der Serendipität. Auch die vorhandenen Exemplare ausgestorbener oder gefährdeter Arten sind in gewisser Weise fiktive Wesen. Das Schicksal des Riesenalk ist ein unheimliches Beispiel von Erhaltung und Verlust. Dieser Vogel war als Sammlerstück so begehrt, dass sogar die letzten beiden Exemplare getötet und an Museen verkauft wurden. Im Rahmen einer Fallstudie beabsichtige ich, einige dieser vorhandenen Exemplare zu untersuchen und Interviews mit Museumsmitarbeiter*innen und Präparator*innen über das Vorkommen des Riesenalks in naturhistorischen Sammlungen zu führen. Dabei sollen die Rolle und die Körperlichkeit der Präparation bei der Bewahrung des Echos einer verlorenen Art untersucht werden. Der Prozess des Verschwindens ist unumkehrbar. Konservierung, Aufzeichnungen oder digitale Wiederbelebung können den Prozess nicht aufhalten, sondern sie lediglich begleiten und ihren Spuren durch das Haus des Verschwindens und des Erhalt folgen.

1. Haraway, Donna „Teddy Bear Patriarchy: Taxidermy in the Garden of Eden, New York City, 1908–1936”, 1984

2. Riedel, Bettina „Science Talks”, Naturhistorisches Museum Wien, 2021


Veröffentlichungen (aktuell)

2020 ‘A worm crossed the street’, Fotohof edition

2018 ‘Intercepted’, Fotohof edition

2017 ‘Blindfell’, self published poster edition 

2012 ‘A Conversion Act’, Fotohof edition

2010 ‘To be undone’, Galerie Gabriel Rolt

2009 ‘Amor Omnia Vincit’, Pierogi Gallery

2008 ‘One for every wish’, Pierogi Gallery