Dr. phil. Jochen Kibel: Widerständiges Wohnen in kolonialen Räumen (DE)
Subjektivierung, Raum und die subjects of rights des kolonialen Urbanismus
Das koloniale Erbe Kenias besteht sowohl in der kolonialen Raumplanung und der Etablierung einer Plantagenwirtschaft, die Millionen von Kenianer*innen zu Landlosen machte, als auch in den Wohnarchitekturen des kolonialen Urbanismus. In Nairobi wurde Architektur während des Kolonialismus zur Segregation, Fixierung, Kontrolle und zum Versuch der räumlichen Formierung kolonialer Subjekte eingesetzt. Gleichzeitig wurden diese Raumpolitiken in Kenia stets unterlaufen, nicht nur durch die Unabhängigkeitsbewegung der Mau Mau, sondern auch in den Alltagspraktiken der Bewohner*innen kolonialer Architekturen.
Die Aneignung dieser Raumordnungen ging mit der Zurückweisung kolonialer Subjektivität einher und materialisiert sich bis heute in einer spezifischen Architekturproduktion. Die These meines Vortrags ist, dass der Widerstand gegen das räumliche Subjektivierungsregime des kolonialen Urbanismus nicht nur die Wohnräume und die Morphologie der Stadt transformiert, sondern auch neue Subjektpositionen ermöglicht und zugleich neue Sozialfiguren hervorgebracht hat. Daraus ergeben sich sozialtheoretische Implikationen für das Verhältnis von Subjektivierung und Raumkonstruktion, oder allgemeiner formuliert: für das Verhältnis von Identität und Erbe. Denn die sozio-materielle Konstruktion von Räumen geht Hand in Hand mit der räumlichen Konstruktion von Subjekten. In der Interaktion mit Räumen transformieren Subjekte diese nicht nur, sondern gelangen im Austausch mit dem baulich-materiellen Erbe zugleich zu neuen Bildern ihrer selbst.
Anhand zweier benachbarter Stadtteile Nairobis (Kaloleni und Makongeni) werde ich in meinem Vortrag darstellen, wie deren gleichermaßen koloniale Architektur in den letzten Jahren von den Bewohner*innen unterschiedlich transformiert wurde. Die ehemalige Gartenstadt Kaloleni wurde durch einfache Wellblechbauten (mabati) stark verdichtet. Obwohl in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen, zeigt sich in Makongeni ein völlig anderes Bild. Die ehemaligen Häuser für Bahnarbeiter wurden zwar ebenfalls von den Bewohner*innen angeeignet und entgegen dem darin eingeschriebenen kolonialen Raumprogramm genutzt. Dennoch gelang es hier nicht, die mabati-Strukturen in gleicher Weise zu verstetigen. Obwohl die Besitzansprüche in beiden Vierteln ähnlich diffus sind, gelingt es den Bewohnern Kalolenis im Gegensatz zu Makongeni, ihren Stadtteil gemeinschaftlich zu entwickeln. Dabei mobilisieren die Bewohner Kalolenis auch die Geschichte des Kolonialismus und des zweiten Weltkriegs, in dem ihre Vorfahren im so genannten Kings African Rifle (KAR) für die britische Kolonialmacht kämpften. Die Erzählung von den siegreichen Vorfahren und damit eine spezifische Erinnerungsarbeit wird so zur Identitätsressource, die sowohl die Wohn- als auch die Selbstverhältnisse der Bewohner*innen Kalolenis refiguriert.
Dr. phil. Jochen Kibel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie und Projektleiter im Sonderforschungsbereich 1265 „Re-Figuration von Räumen“ an der TU Berlin. In seiner Forschung untersucht er das Verhältnis von Subjektivierung, Kolonialarchitektur und Raumplanung. Im Jahr 2023 war er Gastwissenschaftler an der Universität von Nairobi.