Julian Blunk (Berlin): »Walpoles Hand und Füsslis Fuß: Das Gespenst als kultureller Erblasser«
1747 erwarb Horace Walpole ein unscheinbares Landhaus in der Peripherie Londons, das er in den kommenden drei Dekaden vergrößern und im neugotischen Stile umgestalten sollte. In drei voneinander zu scheidenden Bauphasen entstand die private und auf den Namen Strawberry Hill getaufte Residenz, die als Initialwerk nicht nur des Gothic Revival, sondern des Historismus überhaupt gilt und noch heute für ihre regelrecht anarchische Kombinatorik originaler wie kopierter Versatzstücke gotischer Architekturdenkmäler und Bildwerke berühmt ist.
Mitten in die laufenden Umbauarbeiten hinein erschien 1764 Walpoles zunächst unter Pseudonym veröffentlichter und als vermeintlich historisches Dokument ausgegebener Schauerroman The Castle of Otranto, der seinerseits als Gründungsschrift der Gothic Novel Epoche machte. Wenngleich die enge Verwandtschaft, wenn nicht gar die Identität von Strawberry Hill und seinem literarischen Pendant, dem Schloss von Otranto immer wieder und insbesondere von Norbert Miller (1986) gesehen worden ist, ist der Forschung doch bis heute ein wesentlicher Kern dieser vielschichtigen Überblendung entgangen:
Im Subtext des Schauerromans artikulierte sich eine Selbstanklage des Autors in seiner Eigenschaft als historistischer Bauherr, dem die eigenen Sünden gegenüber dem Erbe der Gotik zu Bewusstsein kommen. Denn Walpoles Schlossgespenst von Otranto lässt sich, so die zu belegende These, als eine regelrechte Personifikation des historischen Stilidioms demaskieren: Der Geist der Gotik höchst selbst tritt an, den empörenden Zuschnitt seines eigenen Revivals gerade auch außerhalb des Romans in angemessenere Bahnen zu leiten.