Götz Aly (Berlin): Geschichtsverrückt. Die Deutschen – ein Volk ohne Mitte
Die Zerrissenheit des Landes in Karolinger und Ostelbier, in Bayern und Preußen, in Protestanten und Katholiken, in Sozialdemokraten und Bismarckjaner, die Spaltungen im Dreißigjährigen Krieg, während der napoleonischen Besatzung und schließlich im Kalten Krieg kennzeichnen die deutsche Geschichte. Seit dem beginnenden 19. Jahrhundert wurde immer wieder versucht, die inneren Gegensätze zu überwinden: Das geschah auf demokratisch-nationalistischen, staatlich-autoritären und identitär-nationalsozialistischen Wegen.
In unterschiedlichem Maß mündeten die Einigungsbewegungen stets in kriegerische Aktionen und in massive Aggressionen gegen angeblich Fremde. Das kollektivistisch auf innere Harmonie gerichtete Staatsziel namens Einheit führte zur Verachtung liberalen und weltoffenen Denkens: Das schöne Wort Freisinn wurde den Deutschen zum Unwort, und zwar bis heute. Aus all diesen Formen entwickelten deutsche Aktivisten und Aktivistinnen in den vergangenen 200 Jahren vagabundierende Formen exzessiver Geschichtsverrücktheit – eine nationale, an Mutanten reiche Krankheit, deren Infektiosität neuerdings stark ansteigt. Götz Aly führt durch die Gärten und Abgründe unserer Erinnerungs- und Denkmalpolitik.
Götz Aly studierte in den 1960er Jahren Geschichte und Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und Journalismus an der Deutschen Journalistenschule in München. Er promovierte 1978 in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Seinem Engagement in der Studentenbewegung folgte eine Tätigkeit als Autor und Redakteur für mehrere Zeitungen. Für seine kritisch diskutierten Beiträge zur NS-Forschung erhielt Götz Aly zahlreiche Auszeichnungen. Mit seinem jüngst erschienenen Buch „Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten“ (2021) beteiligte er sich an der Kontroverse um den Umgang mit den Ausstellungstücken kolonialistischer Herkunft im Berliner Stadtschloss.