Nora Sternfeld (Hamburg): Errungene Erinnerungen. Kontaktzonen umkämpfter und geteilter Geschichte
Was geschieht, wenn unterschiedliche Erinnerungsnarrative aufeinandertreffen und ausgehandelt werden müssen? Zwei Publikationen der letzten Jahre stehen paradigmatisch für zwei unterschiedliche Formen der Auseinandersetzung mit widersprüchlichen und umkämpften Erinnerungen: Michael Rothbergs Buch „Multidirectional Memory“ (in deutsch soeben erschienen als “Multidirektionale Erinnerung”) und Dan Diners Aufsatz „Gegenläufige Gedächtnisse“.
Beschreiben ließen sich die Positionen mit Analogie versus Archäologie – sie verweisen auf die beiden Paradigmen der Singularität und der Globalisierung des Holocaust. Ich schlage eine Alternative zu dieser Alternative zwischen Rothberg und Diner vor und möchte von „errungenen Erinnerungen“ in agonistischen Kontaktzonen sprechen. Diese sind in verschiedener Weise errungen: erstens als Anerkennung, dass Erinnerung ein Ergebnis von Kämpfen ist, dass sie brüchig und umstritten ist und immer wieder in der Gegenwart im Hinblick auf die Zukunft formuliert wird. Zweitens als Anerkennung, dass es möglich ist, unterschiedliche Geschichtsbezüge zu formulieren und miteinander auszuhandeln, während es nicht im selben Maße möglich ist, Fakten auszuhandeln – denn der Zugang dazu, was geschehen ist, ist eben doch kategorial davon zu unterscheiden, was dies für die Gegenwart bedeutet. Drittens meint „errungen“ hier durchaus „gegen die bestehenden Erinnerungskollektive errungen“. In diesem Sinn plädiere ich für eine Geschichtsarbeit in geteilten Erinnerungsorten, die sich gleichermaßen als partizipativ und reflexiv versteht, wie sie sich gegen Antisemitismus, antifaschistisch und antirassistisch positioniert.
Nora Sternfeld ist Kunstvermittlerin und Kuratorin. Sie ist Professorin für Kunstpädagogik an der HFBK Hamburg. Von 2018 bis 2020 war sie documenta Professorin an der Kunsthochschule Kassel. Von 2012 bis 2018 war sie Professorin für Curating and Mediating Art an der Aalto University in Helsinki. Darüber hinaus ist sie Co-Leiterin des /ecm – Masterlehrgangs für Ausstellungstheorie und -praxis an der Universität für angewandte Kunst Wien, im Kernteam von schnittpunkt. ausstellungstheorie & praxis, Mitbegründerin und Teilhaberin von trafo.K, Büro für Bildung, Kunst und kritische Wissensproduktion (Wien) und seit 2011 Teil von freethought, Plattform für Forschung, Bildung und Produktion (London). In diesem Zusammenhang war sie auch eine der künstlerischen Leiter:innen der Bergen Assembly 2016 und ist seit 2020 BAK Fellow, basis voor actuele kunst (Utrecht). Sie publiziert zu zeitgenössischer Kunst, Bildungstheorie, Ausstellungen, Geschichtspolitik und Antirassismus.
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