Forschungsprogramm
In den Wertedebatten der Gegenwart wird häufig auf ein Konzept rekurriert, das seit zweihundert Jahren im Prozess der Nationenbildung zu beobachten ist: die Konstruktion kollektiver Identität durch die behauptete Einheit von Staat, Geschichte, Volk, Kultur und Erbe. Dem setzt das Kolleg die These entgegen, dass Identität und Erbe zwar interdependente Konzepte sind, sie aber beide nicht auf stabile Bedeutungen und Beziehungen verweisen. Identität bezeichnet nicht nur Konzepte positiver Selbstfindung und -bestimmung, sondern auch Konzepte zwangsweiser Eingrenzung und Ausgrenzung durch machtgestützte höhere Instanzen. Erbe bezeichnet in unserem Falle Kulturerbe, das, anders als ziviles Erbe, nicht durch private Verfügungen von Erblassern definiert und weitergegeben wird, sondern durch öffentliche, aktive Aneignung von Erbwilligen. Dies schließt den Fall ein, dass sich zu einer bestimmten Zeit für ein bestimmtes Gut keine Erbwilligen finden. Unsichere Beziehungen und Ambiguitäten sind charakteristisch für das konfliktdurchzogene Feld der Identifikation und Aneignung von Kulturerbe im Zusammenhang mit der Konstituierung von Gemeinschaften aller Größenordnungen.
Im Zentrum unseres Forschungsprogramms steht der Zusammenhang zwischen dem Affirmationsbedarf von Gemeinwesen und der Aneignung von Kulturerbe, das für Geschichts- und Identitätspolitiken mobilisiert wird. Die kulturerbe-basierten Identitätskonstruktionen von nationalen, sozialen und politischen Gruppierungen werden hinsichtlich ihrer inkludierenden und exkludierenden Wirkungsweisen analysiert und kritisch historisiert. Untergegangenes, geraubtes oder verkauftes Erbe ist ebenso in die Untersuchungen eingeschlossen wie die Verhandlung von Kulturerbe in supranationalen Kontexten (Europarat, UNESCO).
Von besonderer Bedeutung bleibt dabei immer, den Gegenständen und ihren historischen Sinngebungen nahe zu bleiben, um die jeweils gegenwärtigen Aushandlungsprozesse zu Interpretation und Wert des Erbes nicht von den materiellen und historischen Grundlagen zu lösen. Das Kolleg verbindet den realienkundlichen mit einem kritischen, gesellschaftsbezogenen Ansatz. Damit verknüpft es – auch in internationaler Perspektive – auf innovative Weise die zumeist parallel verlaufenden Diskurse und unterschiedlichen Fächerkulturen.
In der zweiten Förderphase (2021-2025) richtet das Kolleg verstärkt den Blick auf die Bedingungen und Auswirkungen des Erbens. Das Erben und die Formulierung von Identitätszuweisungen finden in einem gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext statt, der sich in permanenter Wechselwirkung zu den beobachtbaren Phänomenen der materiellen Überlieferung und oftmals erhaltenden Erneuerung befindet. Dies gilt für Bauwerke ebenso wie für andere Artefakte, städtische und landschaftliche Räume.
Im GRK 2227 haben sich alle Beteiligten den Grundsätzen guter wissenschaftlicher Praxis verpflichtet.