DIE KOLLEGIAT*INNEN STELLEN SICH VOR...
#6 MIT ORTRUN BARGHOLZ UND MARCELL HAJDU
Mit diesem Format wollen wir Ihnen die Kollegiat*innen des Graduiertenkollegs näher vorstellen und Ihnen einen Einblick in die entstehenden Arbeiten in unserem interdisziplinären Kolleg geben. Im Dialog zwischen den beiden Standorten erzählen zwei unserer Doktorand*innen von ihren Forschungen und den Herausforderungen und Erkenntnissen aus dem Promotionsalltag.
ORTRUN BARGHOLZ (BERLIN)
In meiner Masterarbeit »Rekonstruktion der Moderne« habe ich den Diskurs um eine mögliche Rekonstruktion des Hauses Wolf analysiert. Die Frage nach der Bedeutung und den Implikationen von Rekonstruktion hat mich auch im Rahmen eines Forschungsprojekts zu alternativen Lesarten einer möglichen Rekonstruktion der Bauakademie weiter begleitet. Daraus generalisierte sich mein Interesse an der Erscheinung von zeitgenössischen historisierenden Bauten, welches ich jetzt in meiner Promotion verfolge.
MARCELL HAJDU (WEIMAR)
Ich habe im Bachelor Verkehrsingenieurwesen in Budapest und Braunschweig studiert. Mein Interesse für Stadtplanung wurde durch eine Reihe von Wettbewerben und eine kurze Erfahrung in einem Planungsbüro geweckt. Anschließend habe ich Europäische Urbanistik in Weimar studiert und mich im Stadtplanungsamt von Amsterdam im Städtebau versucht. Während meines Masterstudiums motivierten mich die zeitgenössischen Entwicklungen in Budapest dazu, sowohl durch einige Studienprojekte als auch meine Masterarbeit zu untersuchen, wie bestimmte historische Narrative im öffentlichen Raum ausgedrückt werden. Nun zielt meine Dissertation auf ein allgemeineres Verständnis der Rolle des städtischen Erbes in der Politik der aktuellen rechtspopulistischen Regierung in Ungarn. Ich verwende das Konzept der (nationalen) Hauptstadt, um auf den Prozess der Transformation der symbolischen Landschaft Budapests aus einer konflikttheoretischen Perspektive zu verweisen.
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INSPIRATION
WAS NIMMST DU AN INSPIRATION AUS DEM ÜBERTHEMA "IDENTITÄT UND ERBE" MIT? WELCHE INTERDISZIPLINÄREN FORSCHUNGSANSÄTZE BEEINFLUSSEN DICH?
OB
In der Vermarktung meiner Untersuchungsobjekte wird häufig von vermeintlich »identitätsstiftender Architektur« und »Stadtidentität« gesprochen. Beim Versuch diese Bezüge zu verstehen und zu entwirren öffnet sich ein weites Feld: Was ist denn diese (architektonische) Identität, und warum wird sie in der Vergangenheit gesucht? Wird durch diese Bauten nicht erst die vermeintliche Identität gestiftet, indem sie als Erbe inszeniert werden? Die Referenzen sind oft sehr vage und eklektizistisch kombiniert, auch in ominösen Bezügen zu einem vermeintlichen ›Paris‹ oder ›italienischem Lebensgefühl‹. Daher gibt es unzählige Anknüpfungspunkte in verschiedene Disziplinen, wie etwa Architekturtheorie, Denkmalpflege und Stadtplanung. Meine persönliche Herangehensweise beruht auch auf dem Interface-Begriff, den ich der Medientheorie entnehme. Denn was all den verschiedensten Formen der historisierenden Bauten gemein ist, auch intermedial betrachtet, ist das Wirken über die äußerliche Erscheinung.
MH
In meiner Arbeit verwende ich den Begriff des städtischen Erbes in einem weiten Sinne und beziehe nicht nur das gebaute Erbe als Gegenstand der Denkmalpflege mit ein, sondern auch kulturelle, bildungs- und politische Institutionen und Ereignisse, Gedenkstätten, öffentliche Räume und deren Benennung, die die symbolische Landschaft der Stadt ausmachen. Mein zentrales Interesse gilt der politischen Dimension der jüngsten Transformationen Budapests. Ich nähere mich dem Konzept der Identität aus einer diskurs- und konflikttheoretischen Perspektive. Die Möglichkeit, meine Arbeit im Rahmen des Graduiertenkollegs durchzuführen und an den vielen Diskussionsforen mit Kolleg*innen aus verschiedenen Disziplinen teilzunehmen, sehe ich als großen Vorteil. Im Hinblick auf das weite Feld der Urbanistik im Allgemeinen und mein Forschungsthema im Besonderen dient das interdisziplinäre Umfeld sowohl als Inspiration für weitere Erkundungen als auch Gelegenheit, spezifische Fragen zu klären.
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AKTUELL UND RELEVANT
WELCHE AKTUELLEN DEBATTEN SPIEGELN SICH IN DEINEM THEMA WIDER?
OB
Ich beobachte in der Beschäftigung mit den Bauten eine starke Suggestion von ›Historizität‹, deren konstruierte, bildhafte Wirkung vornehmlich von der Oberflächenerscheinung der jeweiligen Objekte ausgeht. Es wird eine Art imaginiertes Erbe erzeugt. Oft wird aus einem – zum Teil auch nur imaginativen – Vergangenheitsbezug ein Marketing-Element entwickelt. Diese Prozesse sind sehr intransparent und nehmen immer weiter zu. Somit ist die Untersuchung der gezielten Nutzung von architektonischer Erscheinung auf vielen Ebenen brisant: sowohl für den Umgang mit bestehendem baulichem Erbe und Konkurrenzen zwischen ›echtem Alten‹ und ›neuem Alten‹, als auch für die Ausrichtung zukünftiger Stadtplanung, und nicht zuletzt dem schwer greifbaren Verlustempfinden beziehungsweise ›wieder-haben-wollen‹ der Akteur*innen.
MH
Erbe beziehungsweise Erben ist ohne Frage eines der zentralen Themen der heutigen Stadtentwicklung und wird zunehmend zu einem wichtigen politischen und wirtschaftlichen Thema. Die letzte Ausgabe von ARCH+, die die 30 Jahre der Entwicklung Berlins nach dem Fall der Mauer vorstellt, macht das auch sehr deutlich. Es gibt ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse an der Raumpolitik des Rechtspopulismus, wobei der Schwerpunkt vor allem auf Fragen der Identitäts- und Erinnerungspolitik liegt. Ich finde diese Beiträge in ihrem Bemühen, die räumlichen und architektonischen Strategien rechtspopulistischer Akteure zu systematisieren, sehr wertvoll. Trotzdem glaube ich, dass die ermöglichende Rolle der aktuellen postpolitischen Ordnung und des neoliberalen Marktes beim Aufstieg der Rechten unterbelichtet bleibt. Hier stelle ich mich auf die Seite von Wissenschaftler*innen, die für eine radikaldemokratische Perspektive auf die Stadt plädieren und essentialistische Wissensansprüche in Frage stellen. Die Möglichkeit, zur fehlenden akademischen Literatur über die zeitgenössische Stadtentwicklung von Budapest beizutragen, ist natürlich auch eine starke Motivation.
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ERKENNTNISINTERESSE(N)
WORAUS HAT SICH DEIN PROMOTIONSTHEMA ENTWICKELT?
JE
Wie schon beschrieben hatte ich mich in meiner vorherigen Arbeit mit Rekonstruktionsvorhaben beschäftigt. Dabei drängte sich mir immer mehr die Frage nach dem Warum und den Empfindungen sowie Bedürfnissen der Rekonstruktionsbefürworter*innen auf. Warum wollen Menschen, dass die Zukunft so aussieht wie die Vergangenheit? Ich erkenne ein verbreitetes Bedürfnis nach ›Historizität‹ – ob in der Rekonstruktion, historisierendem Bauen, virtuellen (Re)Konstruktionen wie 3D-Stadtmodellen und Videospielen oder Freizeitparks. Aus meiner Tätigkeit im Architekturbüro resultierte ein grundlegend verändertes Verständnis für den meines Erachtens massiv (selbst)überschätzten Einfluss der Architekt*innen auf die Planungsprozesse. Diese Erfahrung mündete in dem Bedürfnis dieses Chamäleon-artige Phänomen des zeitgenössischen historisierenden Bauens struktureller zu verstehen und mein Fragen nach dem Warum eher auf ein Wie zu orientieren. Mithilfe der Auseinandersetzung mit Interfaces, sowohl als systemtheoretische Betrachtungsweise als auch als Metapher, versuche ich die Akteur*innenstrukturen und Entstehungsprozesse anhand der architektonischen Erscheinung zu beleuchten.
MH
Während meines Masterstudiums an der Bauhaus-Universität Weimar hatte ich zwei sehr inspirierende Seminare, die sich mit Konflikten bzw. Erinnerung im urbanen Raum beschäftigten. In diesen Seminaren habe ich mich erstmals mit der Konflikthaftigkeit des Erinnerns im öffentlichen Raum auseinandergesetzt. Ich entschied mich dafür, dieses Thema weiter zu erforschen am Beispiel der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Budapest diente mir immer als persönliches Laboratorium, um meine abstrakteren Gedanken an einem praktischen Beispiel zu testen. In meiner Masterarbeit beschäftigte ich mich weiter mit diesem Thema, was mir eine hervorragende Grundlage für meine jetzige Arbeit im Graduiertenkolleg bietet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mein Forschungsthema an der Schnittstelle zwischen meinem beruflichen Interesse am städtischen Erbe und meiner persönlicheren Auseinandersetzung mit der politischen Situation im heutigen Ungarn und der Entwicklung von Budapest liegt.