RINGVORLESUNG ONLINE

Auch im kommenden Wintersemester werden wir zu unseren Ringvorlesungen eine Übertragung per Videokonferenz anbieten. Alle Vorlesungen können unter den folgenden Links verfolgt werden:

Weimar (Plattform: Big Blue Button, Beginn 18.45 Uhr)
https://meeting.uni-weimar.de/b/mat-e2m-qse-muk

Berlin (Plattform: Zoom, Beginn 18.30 Uhr)
https://tu-berlin.zoom.us/j/63077712693?pwd=Z3ZheXFURnZvYkpFZzdDRzZjNm9pQT09
(Meeting-ID: 630 7771 2693, Kenncode: 269210)

Wir starten unsere Vortragsreihe am heutigen Abend mit der Übertragung des Vortrags aus dem Hörsaal B der Bauhaus-Universität Weimar „Die Vergangenheit bewahren und die Zukunft stärken: Das Erbe und die Identität der religiösen Stätten Indiens“ von Shradha Chandan. Weitere Informationen zum Vortrag unter: https://www.identitaet-und-erbe.org/veranstaltungen/shradha-chandan/

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EINBLICKE IN DIE ARBEIT DES GRADUIERTENKOLLEGS

In diesem Newsletter stellen sich unsere Kollegiatinnen Arnisa Halili und Niloufar Tajeri vor.

AH: Niloufar, was ist das Erste, was du machst, wenn du dich morgens an den Schreibtisch setzt?

NT: Leider zu oft: E-Mails checken. Aber manchmal setze ich stattdessen meine Kopfhörer auf und lasse Musik laufen. Es lenkt mich erstmal ein wenig vom Schreiben ab, lässt die Konzentration für das Nachdenken ein wenig schwinden. Aber anders als beim E-Mails checken, das im Kopf mit anderen Dingen für Unruhe sorgt, ist das Musikhören wie ein Neustart für Kopf und Körper. Vielleicht ist es eine Art Erinnerungs- und Körperarbeit, aber vielleicht ist es auch einfach nur ein Vergnügen, das mich motiviert und das ich mir gönne, bevor es losgeht! Jedenfalls erleichtert es mir, anders als E-Mails, den Übergang ins Schreiben und Reflektieren. Eigentlich sollte ich jeden Morgen so starten!

NT: Gibt es Handlungen, Erinnerungen, Rituale, die dich beim Schreiben und Forschen motivieren und inspirieren?

AH: Beate hatte die Idee, dass wir uns jeden Montag und Freitag online austauschen, welche Ziele wir uns für diese Woche setzen. Das ist ein unterstützendes Ritual geworden und hilft mir, Prioritäten in meiner Forschung zu setzen. Außerdem schafft es eine Verbindung zwischen Weimar und Berlin. Das finde ich sehr schön.
Ansonsten versuche ich „nah“ an meinem Objekt zu bleiben, bevor ich anfange zu schreiben. Hierzu schaue ich mir das Gebäude an, z.B. Material aus meiner Feldforschung, gehe auf Google Streetview, berücksichtige Kunst, die im Kontext der Aushandlung des Nationaltheaters entstanden ist oder lese journalistische Beiträge, die Fragen in mir ausgelöst haben. Vor dem Hintergrund zunehmender Repressionen vor Ort hat mich auch das vielfältige Engagement der Zivilbevölkerung motiviert, den Konflikt wissenschaftlich zu bearbeiten. 

AH: Du wirst häufig auf Podiumsdiskussionen innerhalb und außerhalb Berlins eingeladen. Wie beschreibst du vor neuen Personengruppen dein Forschungsthema?

NT: Ich bin vor vier Jahren in einem stadtpolitischen Konflikt aktiv geworden und habe dabei gemerkt, dass mich an dem Thema etwas interessiert, was über die aktivistische Arbeit hinausgeht. Es geht um die Planung eines Neubaukomplexes am Neuköllner Hermannplatz in Berlin. Das bestehende Warenhaus soll abgerissen werden und an gleicher Stelle will ein österreichischer Immobilienkonzern eine „Projektentwicklung der besonderen Art“ umsetzen – so nennen sie es in ihrem Immobilienportfolio. Teil des Projektes ist die Wiederherstellung der Fassade und der Kubatur eines historischen Gebäudes aus den 1920er Jahren durch David Chipperfield Architects.
Als Aktivistin war ich mit Fragen wie Verdrängung, Partizipation/Mitbestimmung und auch ökologischen Fragen beschäftigt. Den Planungs- und Architekturlogiken, schien mir, lag aber noch etwas anderes als lediglich die Wirkweisen neoliberaler Stadtentwicklung zugrunde. Ich interessiere mich für die Grundannahmen über Entwicklung/Fortschritt, Erbe/Zugehörigkeit und ebenso für Prozesse der Produktion von Abwesenheiten/Überschreibungen, die dieser Planung und ihrer Ermöglichung zugrunde liegen. Und ich gehe der Frage nach, welche Wissensordnungen, Wahrnehmungsformen und ästhetischen Ordnungen so tradiert und fundamental geworden sind, dass sie nicht gesehen oder hinterfragt werden. Woher kommen sie, wozu führen sie und welche anderen Episteme, Perspektiven und Möglichkeiten überschreiben/verdrängen sie? Sind diese Grundannahmen eine Art „immaterielles Erbe“ der Modernität? Wie wird damit Raum produziert und neues, materielles Erbe erfunden? Ich will sowohl den Konflikt als auch seine „Gegenstände“ – d.h. vor allem den Hermannplatz und den Bestandsbau ebenso wie die geplante Architektur, die Räume und Diskurse untersuchen. Ich lenke meinen Blick also auf die Grundannahmen und Fundamente der räumlichen Produktionsprozesse und ich erhoffe mir dadurch Zugänge zu Alternativen und transformativen Momenten zu verschaffen. Mich interessiert vor allem, ob das alles auch anders ginge – der Konflikt jedenfalls, dieser Zwischenzustand, der viel verzögert und die Zeit ein wenig auch aushebelt, zeigt, dass auch andere Ansätze aufblitzen können, sobald die Prozesse nicht mehr so linear und vorhersehbar zu sein scheinen.

NT: Du hast bestimmt auch mehrere Versionen, wie du dein Thema vorstellst, oder? Welche möchtest du uns erzählen?

AH: Zwischen deinem und meinem Forschungsprojekt gibt es Ähnlichkeiten. Ich beschäftige mich mit dem Nationaltheater in Tirana, einem Gebäude im futuristischen Stil, das während der albanischen Monarchie und der italienischen Besatzungszeit 1938/39 vom Architekten Giulio Bertè erbaut wurde. Das Gebäude wurde über die Jahre mehrfach für politische Propagandazwecke instrumentalisiert. Gleichzeitig beheimatete es auch die wichtigsten albanischen Kulturinstitutionen und wurde immer wieder zum Schauplatz des Widerstands gegen das vorherrschende politische System.
Am 17. Mai 2020 um 4.30 Uhr hat die albanische Regierung den Abriss des Nationaltheaters in Tirana verordnet. Anstelle des Nationaltheaters sollte das dänische Architektenbüro Bjarke Ingels Group mit dem Bau eines neuen Nationaltheaters der Stadt zu einem „modernen“ Image verhelfen. Das Nationaltheater ist dabei Teil eines größeren Umbauplans für das Stadtzentrums seitens der lokalen Regierung (Masterplan TR 2030), hat aber einen besonderen Widerstand in der Bevölkerung hervorgerufen.
Ich würde sagen, dass mich vor allem die Politisierung des Nationaltheaters in Tirana, dessen Bedeutungswandel und Aushandlung vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen interessieren. Zugehörigkeit(en) zu einer globalen oder europäischen Gemeinschaft spielen in der gegenwärtigen Stadtentwicklung Tiranas eine wichtige Rolle. Nationale und europäische Identitätskonstruktionen sind in der Aushandlung des Nationaltheaters von Bedeutung und werden temporär als Handlungsinstrumente von verschiedenen Akteur*innen im Konflikt eingesetzt. Ein Blick in den Forschungsdiskurs zu „Erbe-Verlust“ im Westbalkan und vor allem zum Nationaltheater in Tirana zeigt, dass „Erbe-Zerstörungen“ oft als nationale Phänomene behandelt und die Auswirkungen des EU-Integrationsprozesses auf die Aushandlung von Erbe vor Ort vernachlässigt wurden. Aus diesem Grund ist es mir wichtig, sichtbar zu machen, wie unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie auf lokaler und europäischer Ebene in der Aushandlung des Nationaltheaters in Tirana zum Vorschein treten und welche Funktionen „Identität(en)“ dabei einnehmen. Es geht mir auch darum, die Aushandlung von „Erbe“ über „Schutz/Erhalt“ sowie „Zerstörung/Abriss“ hinauszudenken.

AH: Niloufar, du arbeitest dich gerne in verschiedene Theorien ein. Gibt es jemanden, der dich fachspezifisch besonders zum Weiterdenken deiner Forschung angeregt hat?

NT: Hinter jeder Theorie steckt eine Person, nein mehrere Personen! Sie haben eine theoretische Verortung, eine oder mehrere Geografien, Vernetzungen, Biografien, Körper und Politiken. Ich fange deswegen damit an – es gibt mehrere Personen und Netzwerke, die für meine Forschung wichtig sind. Wir bauen seit 2021 ein Netzwerk an FLINTA* (Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen) mit Rassismuserfahrung auf, die sich in der Architektur und Raumforschung mit Themen der (De)kolonialität, Modernität und racial capitalism aber auch intersektionalen, feministischen Themen des Raumes und der Architektur beschäftigen. Da gibt es einen regen theoretischen, aber auch biografischen und politischen Austausch. Die Texte, Projekte und Arbeiten von Noa K. Ha sind für meine Arbeit relevant. Über sie bin ich zur dekolonialen Theorie von Anìbal Quijano gekommen, zur „Kolonialität des Städtischen“, einem theoretischen Konzept von ihr, und zur feministisch, intersektionalen Soziologie von Avtar Brah. Auch Tazalika M. te Reh und ihre Auseinandersetzung mit „Black Spaces“ als Erinnerungsräume im Kontext von New York hat sehr viel in meiner Arbeit angeregt – über sie kam ich zu Paul Gilroy und damit auch zu Stuart Hall und Mable O. Wilson! Diese Texte bilden einen theoretischen Rahmen für meine Beschäftigung mit Erbe als Form des Geschichtenerzählens, das durch seine Gegenständlichkeit sowohl Dinge sichtbar macht, als auch überschreibt und Abwesenheiten produziert – also immer machtpolitisch ist und damit auch eingebunden in Prozessen der Differenzierung, Abgrenzung und Kontrolle von Körpern im Raum. Apropos, „Politics of Space and Bodies“ – das ist das Motto eines Magazins, das ich immer empfehle: The Funambulist.
Dann ist da noch die Beschäftigung mit Wissen – Susanne Hauser ist mit ihrer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf Architektur und Architekturwissen für meine Arbeit von Bedeutung. Wissen wird dadurch breiter und mehrdimensionaler gedacht als es in der Architekturtheorie der Fall ist. Zwischen diesen ganzen Ansätzen gibt es Resonanzen und Verbindungspunkte – schließlich sind Wissen, dessen Historiographie, Entstehung und die Muster und Grundlagen der Wissensproduktion ein Kernthema der dekolonialen Theorie. Den Grundannahmen des Architekturwissens auf den Grund gehen zu wollen, kommt, last but not least, von der Beschäftigung mit dem städtischen Postfundamentalismus von Nikolai Roskamm. 

NT: Gibt es bei deinen Forschungen vor Ort in Tirana eine Begegnung oder einen Moment, der dich zu einer theoretischen Erkenntnis geführt hat? Und würdest Du auch sagen, dass es fruchtbar ist, die Grenzen zwischen Theorie und Praxis aufzuheben?

 AH: Für mich ist es wichtig, vor Ort zu sein, da Emotionen eine wichtige Rolle in meinem Konflikt spielen und ich diese über persönliche Begegnungen einholen kann. Die Analyse der medialen Berichterstattung sowie Beiträge aus den Sozialen Netzwerken sind zwar notwendige Orientierungspunkte für meine Forschung, aber sie bilden oftmals vermeintlich dominante und „klare“ Perspektiven im Konflikt ab und Akteur*innen im „Dazwischen“ werden vernachlässigt. Mir hilft es auch, mein Thema mit unterschiedlichen Personen und auf unterschiedlichen Sprachen zu diskutieren, weil mir dadurch auch hegemoniale Diskurse, in denen ich sozialisiert bin, bewusst werden.
Eine besondere Erkenntnis hatte ich hinsichtlich meines Forschungsstandes. Ich habe die meisten wissenschaftlichen Beiträge zum Nationaltheater im albanischen, italienischen und englischsprachigen Diskurs gelesen. Ich habe mich gewundert warum einige internationale Akteur*innen, die die gegenwärtige Stadtentwicklung mit beeinflussen, nicht in den Konflikt einbezogen werden oder warum die „Welle an Erbe-Zerstörungen“ in Tirana oft „nur“ als postkommunistische Kontinuität gedeutet wird und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wie die starke Abwanderung, Armut und der EU-Integrationsprozess vernachlässigt werden. Wissenschaftliche Artikel zum Nationaltheater sind mir vor allem in der Architektur und weniger in den Theaterwissenschaften begegnet.
Erst vor Ort habe ich die prekäre Situation der öffentlichen Forschungslandschaft verstanden und dass wissenschaftliche Arbeiten zu „Zukunftsthemen“ eher gefördert werden. Dadurch sehe ich die Darstellung des „Forschungsstandes“ als komplex an, versuche Erkenntnisse aus Gesprächen mit Wissenschaftler*innen vor Ort in diesen einfließen zu lassen und lokale Besonderheiten der Forschungslandschaft einzubeziehen. Der Forschungsstand sollte meiner Meinung nach nicht nur eine Abhandlung von bestehender Literatur sein. Jetzt habe ich wieder Lust, nach Tirana zu gehen!

AH: Wir sind seit einem Jahr Teil des Graduiertenkollegs. Auf welche Momente blickst du gerne zurück?

NT: Ich fand die Einführungswoche vor einem Jahr in Weimar schön. Wir haben uns alle kennenlernen dürfen und dadurch, dass Weimar überschaubar und einladend ist, haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Es gab damals eine kleine Mapping-Aufgabe im Neuferthaus, die wir mit Sigrun Langner gemacht haben. Ihr Workshop hieß „Kartieren als kulturelle Praktik des Verstehenwollens“. Ich erinnere mich daran, wie jede Person kontemplativ in und um dieses Haus herumlief, es gab Begegnungen, aber wir waren auch alle auf die Aufgabe und unsere Wahrnehmung konzentriert. Später haben wir uns unsere Zeichnungen, Aufnahmen, Dokumentationen gegenseitig vorgestellt und ich fand es toll, jede Person auch über ihre Zeichnungen, Methoden und Schwerpunktsetzungen kennenzulernen! Ich habe damals von jeder Person ein Foto bei der Vorstellung der eigenen Zeichnungen gemacht. In der gleichen Woche gab es eine Diskussion im Schaudepot der Erfurter Südsee-Sammlung – das war intensiv und es schälte sich irgendwie ein gemeinsamer Nenner von „wokeness“ heraus, wenngleich sich natürlich auch differenzierte Positionalitäten abzeichneten.

NT: Dann gebe ich die Frage mal zurück, aber anders: Worauf freust du dich in den nächsten zwei Jahren, oder generell, in den nächsten Jahren?

AH: Wie süß, dass du von allen ein Bild gemacht hast! Vielleicht können wir am Ende des Kollegs eine Diashow machen? Am meisten freue ich mich, Zeit mit euch zu verbringen, ob im Büro, in den Pausen, in Seminaren, (im Kolloquium :)) oder auf gemeinsamen Konferenzbesuchen. Ich habe das Gefühl, wir haben einen regen Austausch in unserer Gruppe, sei es über die Forschungswerkstatt von Janna, andere Treffen oder auch privat. Das zeichnet sich auch in unseren Arbeiten ab. Ich bin gespannt zu sehen, in welche Richtungen sich unsere Arbeiten spezifizieren und wie sie auch zusammenwachsen.

NT: Danke für das tolle Gespräch!

AH: Danke dir!

DFG-Graduiertenkolleg 2227 »Identität und Erbe«
 
Bauhaus-Universität Weimar
Fakultät Architektur und Urbanistik
 
Wissenschaftliche Koordination:
Dr. Wolfram Höhne
99423 Weimar, Marienstr. 9 (Raum 105)
Tel. +49 (0) 3643 - 583139
wolfram.hoehne@uni-weimar.de
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