Identität und Erbe

Ringvorlesung am 6.12.2022, TU Berlin: 
KRISTINA JÕEKALDA (TALLINN): ZUR HISTORIOGRAFIE DES ERBES: DISZIPLINÄRE GRENZEN IM DEUTSCHBALTISCHEN UND ESTNISCHEN KONTEXT

Die Heritage Studies entstanden in den 1980ern, inmitten einer Ära der estnischen Geschichte, in der die Frage nach dem Umgang mit Denkmälern so aktuell war, wie nie zuvor. Im Einklang mit der sowjetisch-estnischen Kulturerbebewegung Muinsuskaitseliikumine sollte in den späten 1980ern die Unabhängigkeit des Landes zwischen den Weltkriegen als wichtigstes Erbe des Landes gewürdigt werden.
Heritage ist in den westlichen Kunstgeschichte ein randständiges Konzept geblieben. In machen Fällen können deutliche Grenzen zwischen Kunstgeschichte  und den Heritage Studies gezogen werden, nicht selten bleibt diese Differenzierung jedoch ambivalent. Mein Forschungsgegenstand, Schriften über die Geschichte der baltischen Architektur und deren Erhaltung, fallen eher in die letztere Kategorie. Diesen unbestimmten Zwischenraum erkunde ich in meinem Vortrag. Während die Kunstgeschichte zumeist in den Traditionen ihrer Disziplin befangen bleibt, tendieren die Heritage Studies dazu, sich auf zeitgenössische Themen zu beschränken. David C. Harvey hat die Fragestellungen der Heritage Studies jedoch zu ihrem historischen Kontexten zurück verfolgt, die insbesondere im 19. Jahrhundert zu finden sind: die Bedeutung von Denkmälern für die Prozesse der Identitätsbildung, die ständigen Veränderungen in den Wertzuschreibungen an Denkmäler, deren Potenzial gesellschaftliche Gruppen zu vereinen, die Beziehungen zwischen akademischer und populärwissenschaftlicher Forschung bis hin zu den gefährlichen Verflechtungen mit nationalistischen und kolonialistischen Politiken. Deutschbaltische Akademiker:innen dieser Zeit folgten nicht selten ihren deutschen Kolleg:innen – aber wer waren ihre Vorbilder und worin bestätigten sie einander? Seit Bestehen des estnischen Nationalstaats hat dessen akademische Landschaft den Anschluss an internationale Leitmodelle gesucht. Wie weit entfernten sie sich von den Narrativen der deutschsprachigen Forschung und den Grenzen der kunsthistorischen Disziplin? Hat ihnen die Perspektive der Heritage Studies die Erschließung neuer und unbeachteter Themen ermöglicht?

Kristina Jõekalda ist Dozentin und Senior Researcher an der Estnischen Kunstakademie, Tallinn. Sie hat dort Kunstwissenschaft und an der Universität Helsinki allgemeine Geschichte studiert. 2018 war sie Gastwissenschaftlerin an der Humboldt-Universität zu Berlin (gefördert durch die Böckler-Mare-Balticum-Stiftung) und 2022 Postdoctoral Associate an der Yale Universität. Sie wurde mit einer Arbeit über „German Monuments in the Baltic Heimat? A Historiography of Heritage in the ‘Long Nineteenth Century’“ (Tallinn 2020) promoviert. Zu Ihren Lehr- und Forschungsschwerpunkten zählen Kunst- und Architekturgeschichte sowie Historiographie und Denkmalpflege im Baltikum im Kontext des Nationalismus und Kolonialismus. Sie ist Mitherausgeberin des Sammelbandes „A Socialist Realist History? Writing Art History in the Post-War Decades“ (Wien/Köln/Weimar 2019) sowie der Sonderhefte „European Peripheries of Architectural Historiography“ (The Journal of Architecture 2020) und „Debating German Heritage: Art History and Nationalism during the Long Nineteenth Century“ (Kunstiteaduslikke Uurimusi / Studies on Art and Architecture 2014).

Technische Universität Berlin
Straße des 17. Juni 135, Hauptgebäude, H 111

Der Vortrag kann per Livestream verfolgt werden unter dem Link: https://tu-

https://tu-berlin.zoom.us/j/66921079151?pwd=UThiZWxYYTYzbjdRZUxXRHU3R0JYZz09

 

Aktuelle Informationen zu den Vorträgen und unseren Gästen finden Sie unter: https://www.identitaet-und-erbe.org/category/veranstaltungen/semestertermine/. Die Tonaufzeichnungen der Vorträge bieten wir in unserem Podcast zum Nachhören an.

Neuerscheinung: 
PRAKTIKEN DES ERBENS. METAPHERN, MATERIALISIERUNGEN, MACHTKONSTELLATIONEN

Simone Bogner, Michael Karpf, Hans-Rudolf Meier (Hrsg.)
Ausgehend von der Bemerkung des Philosophen Jacques Derrida, dass Erbe immer auch eine Aufgabe sei, widmet sich der dritte Band der Schriftenreihe des Graduiertenkollegs „Identität und Erbe“ den sozialen und kulturellen Praktiken der Bezugnahme auf Vergangenheit(en) und Identität(en). Mit einem (kulturellen) Erbe soll und muss etwas getan werden, um es überhaupt hervorzubringen. Es konstituiert sich erst im Akt des (Nicht-)Erbens, das heißt im Wechselverhältnis mit den mit und an ihm ausgeführten Praktiken. Gleichwohl ermöglicht erst deren Verbindung mit den materiellen Überresten und Überlieferungen des Erbes eine Aneignung oder Ablehnung der Vergangenheit sowie die Fort- und Umschreibung eines bereits bestehenden Erbes. Diese Vorgänge sind nicht willkürlicher Natur: Die Möglichkeiten zur Interpretation und Deutung werden durch die sozialen, politischen, kulturellen, ökonomischen und technischen Bedingungen der Gegenwart sowie durch die Geschichte und Materialität des Erbes beschränkt, erweitert und gelenkt. Erbe und Erbeprozesse müssen deshalb notwendigerweise miteinander in Beziehung gesetzt werden.

Mit Beiträgen von
Simone Bogner und Michael Karpf, Stefan Willer, Giorgia Aquilar, Jörg Springer, Bernd Euler-Rolle, Elizabeth Sikiaridi und Frans Vogelaar, Verena von Beckerath, Alexandra Klei, Oluwafunminiyi Raheem, Ronny Grundig, Özge Sezer, Anna Kutkina, Inge Manka, Karolina Hettchen und Monique Jüttner sowie Julian Blunk.

Erhältlich im:
Bauhaus-Universitätsverlag Weimar (2022)
978-3-95773-303-0 (ISBN). 264 Seiten
DFG-Graduiertenkolleg 2227 »Identität und Erbe«
 
Bauhaus-Universität Weimar
Fakultät Architektur und Urbanistik
 
Wissenschaftliche Koordination:
Dr. Wolfram Höhne
99423 Weimar, Marienstr. 9 (Raum 105)
Tel. +49 (0) 3643 - 583139
wolfram.hoehne@uni-weimar.de
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